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01Reisende der Hoffnung: Selma Kuyas, Fabian Henzmann, Johanna List und Vanja Crnojevic (von links).

Was hat die Flüchtlingshilfe dieser Zürcher gebracht?

Diesen Herbst sind private Helfergruppen aus Zürich nach Osteuropa gefahren, um den Flüchtlingen auf der Balkanroute zu helfen. Es war für alle eine einschneidende Erfahrung.
Redaktoren: Bernhard Odehnal Wien und David Sarasin vom 

Die erwartete Entspannung auf der Balkanroute ist bis jetzt ausgeblieben. Trotz der niedrigen Temperaturen sind noch immer Tausende Flüchtlinge auf dem Weg von Griechenland über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland. Am ersten Weihnachtstag landeten im griechischen Hafen Piräus 1700 Flüchtlinge, die zuvor in kleinen Booten die Überfahrt von der Türkei auf die Insel Lesbos gewagt hatten. Insgesamt kamen in der vergangenen Woche über 12’000 Flüchtlinge in Piräus an. Alle wollten weiter nach Westen.

An der griechisch-mazedonischen Grenze werden weiterhin nur Syrer, Iraker und Afghanen durchgelassen. Flüchtlinge aus anderen Staaten kommen nur auf gefährlicheren und auch teureren Wegen weiter: In den vergangenen Wochen registrierten die mazedonischen Behörden eine deutliche Zunahme von Schlepperaktivitäten.

An der österreichischen Grenze werden täglich rund 3000 Flüchtlinge registriert, die aus Slowenien einreisen. Am steirischen Grenzübergang Spielfeld wird nach Fertigstellung eines dreieinhalb Kilometer langen Grenzzauns ein Erstaufnahmezentrum gebaut. Bis dahin sollte der Flüchtlingsstrom aus Slowenien eigentlich über Kärnten umgeleitet werden. Etwa 30 Cars und drei Sonderzüge kommen täglich in der Kärntner Stadt Villach an. Von dort werden die Flüchtlinge weiter in Notquartiere nahe der deutschen Grenze geschickt. Weil der Transport schlecht funktioniert, werden seit Montag doch wieder an die 1000 Menschen pro Tag in Spielfeld registriert.

95’000 Menschen ersuchten 2015 laut einer Statistik des Innenministeriums in Österreich um Asyl, 300 Prozent mehr als 2014. Allerdings stellen nur 20 Prozent der über die Balkanroute kommenden Flüchtlinge Asylanträge in Österreich, 80 Prozent wollen weiter nach Deutschland. Der Freistaat Bayern ist mit dem Grenzschutz durch die Bundespolizei nicht zufrieden und würde die Überwachung der Grenze zu Österreich lieber selbst übernehmen. Das lehnt die Regierung in Berlin ab.

02

Jene Flüchtlinge, die über die Balkanroute kommen, haben die Schweiz weiterhin nicht auf ihrem Radar. Die Vorarlberger Polizei registriert in den Zügen nach Buchs oder St. Margrethen kaum Syrer oder Afghanen. Das seien nur einige wenige und «für uns kein Thema», sagt ein Polizeisprecher.

Nicht zufrieden sind die EU-Regierungen mit der Türkei, die zu wenig tue, um Flüchtlinge an der Ausreise zu hindern. Laut der europäischen Grenzschutztruppe Frontex kommen pro Tag zwischen 3500 und 4000 Menschen aus der Türkei auf griechischen Inseln an. Die türkische Regierung hingegen gibt an, sie habe allein am vergangenen Wochenende fast tausend Flüchtlinge festnehmen lassen, 700 davon bei der illegalen Einreise aus Syrien, die anderen beim Versuch, die Grenzen nach Bulgarien und Griechenland zu überqueren.

Sie war einst selbst ein FlüchtlingskindEine Zürcher Organisation baut im Süden Serbiens Helferstrukturen auf.

Flüchtlingshelfer: Vanja von "Border Free Association", Zürich, 22.12.2015, © Dominique Meienberg

Flüchtlingshelfer: Vanja von „Border Free Association“, Zürich, 22.12.2015, © Dominique Meienberg

Viel länger als zwei Wochen hält es Vanja Crnojevic (35) nicht aus. Dann muss sie wieder los, nach Presevo, in den Süden Serbiens. Seit drei Monaten geht das schon so. Seit sie mit dem von ihr ­gegründeten Verein Borderfree Association auf der Flüchtlingsroute Hilfe leistet. Heute verbringt sie mehr Zeit in Presevo als in der Schweiz, legt hier nur Ruhephasen ein, in denen sie zuerst krank im Bett liegt, danach ein paar Tage die Ruhe der Bündner Berge geniesst. Umso mehr, als sie in Presevo wenig schläft, rund um die Uhr einsatzbereit ist. «Es gibt so viel zu tun überall», sagt sie. «Niemand hat die Situation im Griff, alle arbeiten mehr oder weniger spontan.» Das gilt für sie und das gilt für die Helfer vor Ort, mit denen sie gute Kontakte pflegt.

Wer Crnojevic bei der Arbeit vor Ort beobachtet, merkt, wie selbstverständlich sie ihre Rolle als Helferin besetzt. Mit Soldaten verhandelt sie ebenso routiniert wie mit Politikern. Sie sucht stets die Nähe zu den Menschen. Als bei ­einem ihrer Einsätze eine Frau einen Herzinfarkt erleidet und stirbt, versorgt sie die Familie und organisiert die Beerdigung. Als ein Kind ärztliche Betreuung benötigt, fährt Crnojevic ins Spital und organisiert für die Familie Schlafplätze. «Die Momente der Menschlichkeit sind in dieser schwierigen Situation extrem wichtig», stellt sie fest.

** Border Free ** Flüchtlinge (c) Border Free

** Border Free ** Flüchtlinge (c) Border Free

Vanja Crnojevic weiss dies aus eigener Erfahrung. Sie war 14, als in Bosnien der Krieg tobte und sie mit ihrer Familie in die Schweiz floh, nach Churwalden. Hier lebt sie heute noch, zusammen mit ihrem zehnjährigen Sohn. Hier arbeitete sie vor der Flüchtlingskrise bei der Unia. Hierher kommt sie zurück, nicht aus dem Krieg zwar, aber aus dem Herzen der europäischen Krise.

«Der Zuspruch war riesig»

Als im Mai 2014 weite Teile Bosniens überschwemmt wurden, fuhr sie zum ersten Mal als Helferin in den Balkan. Sie spricht die Sprache und kennt die Umgangsformen. Sie habe damals in Bosnien bemerkt, dass es Helfer schwierig haben, wenn sie auf sich selber gestellt sind, sagt Crnojevic. Deshalb wollte sie bei ihrem aktuellen Einsatz einen Verein hinter sich haben, der sie unterstützt und mit dem sie mehr erreichen kann, mehr Kraft besitzt. Zusammen mit der Künstlerin Sonia Bischoff und weiteren Frauen aus Zürich gründete sie im September dieses Jahres Borderfree Association. Bald waren sie eine ansehnliche Gruppe, ein ordentlicher Verein und sammelten Spenden, um ihre Einsätze zu finanzieren. «Der Zuspruch war riesig.»

Heute ist Borderfree Association eine ernstzunehmende Organisation und eine wichtige Stütze vor Ort. Die Freiwilligen verfassen hierzulande Spendenbroschüren, stellen den Verein an Schulen vor, organisieren Solidaritätskonzerte, verkaufen T-Shirts, um die Einsätze zu ­finanzieren. Crnojevic selber ist so etwas wie das Aushängeschild des Vereins. Das Fernsehen und mehrere Zeitungen berichteten über sie (auch der TA begleitete sie im Sommer bei einem Einsatz). Mit ­einem Netzwerk von Freiwilligen ist Borderfree konstant in Presevo präsent, wo bis heute täglich mehrere Tausend Flüchtlinge durchkommen. Die Bedingungen seien schwieriger als zu Beginn ihres Einsatzes, wegen des schlechten Wetters und weil nur noch Leute aus Syrien, Afghanistan und dem Irak Papiere erhalten, sagt Crnojevic. Borderfree Association hat vor Ort eine Wohnung gemietet, um Helfer unterzubringen, die meisten packen mehrere Tage mit an. Alle unter extremen Bedingungen, weit entfernt von einem strukturierten Tages­ablauf, dies zeigen die Tagebucheinträge der Helfer auf Facebook. «Wir sind sehr zusammengewachsen. Die meisten von ihnen sind beseelt davon, etwas Sinnvolles tun zu können», so Crnojevic.

Netzwerk von 40 Helfern

Neben den spontanen Kleinsteinsätzen sei der Verein von Beginn weg auch an gezielten Aktionen interessiert gewesen. So haben sie kürzlich Geld für Wärme­decken gesammelt, ein geheiztes Zelt ­installiert oder Schritte in die Wege ­geleitet, um beim Bahnhof in Presevo einen Container zu installieren, von wo aus die Freiwilligen agieren können. ­Zudem ist die Zusammenarbeit mit der lokalen privaten Helferorganisation Youth for Refugees seit längerem im Gange. Zusammen stellen sie in Presevo ein Netzwerk von rund 40 Helfern. «Natürlich reicht das nicht, aber es ist nicht nichts», sagt Crnojevic.

Wie lange dieses Leben für sie noch weitergehen soll? Vanja Crnojevic weiss es nicht. Weihnachten hat sie mit ihrer Familie zu Hause verbracht. Doch sei es ihr zu dieser Zeit schwergefallen, nichts zu tun. Deshalb ist sie gestern wieder losgefahren. «Helfen ist nun halt mein Leben geworden.»

Ein Paar macht sich selbstständigFabian Henzmann und Johanna List fahren spontan nach Ungarn. Dann verkompliziert sich die Situation. 

Flüchtlingshelfer: Fabian und Johanna von "Kinder auf der Flucht", Zürich, 18.12.2015, © Dominique Meienberg

Flüchtlingshelfer: Fabian und Johanna von „Kinder auf der Flucht“, Zürich, 18.12.2015, © Dominique Meienberg

Drei Stunden genau dauerte der Prozess zwischen dem Anblick der furchtbaren Bildern von Menschenschlangen und der Entscheidung, loszufahren. Am gleichen Abend machten sich Fabian Henzmann (33) und Johanna List (31) auf den Weg, es war der 10. September. Ziel war Györ, nahe der ungarisch-österreichischen Grenze, wo täglich Flüchtlinge vorbeikommen und wo sich die Wetterlage zunehmend verschlechterte. Ihr Audi-Kombi – inklusive Dachbox – war voll mit Dingen, die das Paar entweder bereits besessen hatte oder spontan noch auftreiben konnte. Da Henzmann als freischaffender Fotograf arbeitet, kann er sich solche Pausen erlauben, und Lists 60-Prozent-Stelle als Sozialpädagogin ermöglicht ihr verlängerte Wochenenden.

Der Einsatz war erfolgreich, sie konnten die Waren verteilen. Nach der Rückkehr schalteten sie eine Facebook-Seite auf, kurz darauf wurden sie mit Sach- und Geldspenden überhäuft. «Wir mussten uns auf ein Thema fokussieren», sagt Henzmann. «Kinder auf der Flucht» war bald der Name ihres Vereins. Ein Thema, mit dem sie sich auch vor den Hasskommentatoren schützen konnten, die damals schon im Netz kursierten. «Gegen Kinder zu schimpfen, getraut sich niemand», sagt Henzmann. Ihr zweiter Einsatz fand knapp drei Wochen später statt, diesmal war die Gruppe auf acht Personen angewachsen, der Konvoi aus vier Fahrzeugen reiste nun nach Hegyeshalom, ebenfalls an der ungarisch-österreichischen Grenze. Wiederum bewährte sich die Reise, man war effizient, arbeitete mit anderen Helfergruppen an einem gemeinsamen Ziel.

Kinder auf der Flucht Bilder zur Doppelseite von David Sarasin

Kinder auf der Flucht – Bilder zur Doppelseite von David Sarasin

Sie konnten etwas bewirken, konnten ihre gesammelten Waren so verteilen, wie sie sich das vorgestellt hatten. Doch befiel sie auch ein anderes Gefühl, eines, das alle freiwilligen Helfer früher oder später heimsucht: Zum gemein­samen Etwas-Sinnvolles-auf-die-Beine-Stellen gesellt sich der Frust über die Verhältnisse vor Ort, über offizielle Hilfswerke, die nur schwach präsent sind, über Schlepperbanden, die von der Not der Flüchtlinge profitieren, über eine Politik, die bewusst Chaos stiftet, um die Bevölkerung aufzuwiegeln; und ganz generell über die politische Grosswetterlage in Europa, dessen Uneinigkeit nichts Gutes verspricht und zu dessen Spielball die Flüchtlinge mit der Zeit immer mehr geworden sind – was schliesslich auch immer mehr die Arbeit der Helfer veränderte.

Helfen auch in Berlin

Für den Verein «Kinder auf der Flucht» zeigten sich erste Schwierigkeiten auf der dritten Reise, noch einmal drei Wochen später. Diesmal führte sie nach Kroatien. Trotz der offiziellen Zulassungsbewilligung fürs Camp in Slovanski mussten die Schweizer draussen bleiben. Es blieb ihnen nur, die Ware beim Roten Kreuz abzuliefern, mit der Hoffnung, dass sie auch bei den Betroffenen ankommen würde.

Doch aufgeben wollte das Paar aufgrund der politischen Verschiebungen nicht. Auch wenn sich die Hotspots, an denen die Flüchtlinge durchkamen, seit Beginn ihres Engagements immer mehr in Richtung Süden verschoben. Die beiden hatten Respekt vor den Verhältnissen an der mazedonisch-serbischen Grenze und fanden es zudem nicht sinnvoll, mit ihren Autos die lange Strecke zurückzulegen. Ihr vierter und bisher letzter Konvoi führte sie deshalb nach Berlin in eine Notunterkunft. «Weil die da genauso Hilfe benötigen. Je länger, je mehr.»

Persönliches wird unwichtig

Henzmann und List sind sich einig darin, dass die Zeit, in der sie sich für die Flüchtlinge eingesetzt haben, in vielerlei Hinsicht prägend war. «Die Aufgabe vereinnahmt dich total. Du gehst die ganze Zeit an deine persönlichen Grenzen», sagt List. Gewöhnliche Dinge wie Essen, Kaffeetrinken oder ins Kino zu gehen, würden immer unwichtiger. «Das Helfen beflügelt einen, aber es kann einen auch gefangen nehmen», sagt List. «Man ist konstant der Gefahr ausgesetzt, sich selber zu überhitzen», sagt Henzmann. Es sei deshalb wichtig, sich dieses Umstands immer wieder bewusst werden zu lassen.

Sie gehen seit ihrer Freiwilligenarbeit noch achtsamer miteinander um als vorher. Und das Wissen, dass sie gemeinsam viel erreichen können, habe gutgetan. Doch auch Pausen von den Einsätzen seien wichtig. Zum Beispiel jetzt gerade, wo dem Paar dreiwöchige Ferien in Übersee bevorstehen. «Danach sind wir wieder einsatzbereit.»

Der grosse Zürcher Konvoi«Tsüri hilft» fuhr im Oktober mit einem riesigen Konvoi nach Ungarn.

Flüchtlingshelfer 1/3 Selma von Tsüri hilft. Zürich, 10.12.2015

Flüchtlingshelfer 1/3 – Selma von Tsüri hilft. – Zürich, 10.12.2015

Unter all den privaten Hilfsprojekten, die von Zürich aus in Richtung Ost­europa fuhren, war «Tsüri hilft» das grösste. 27 Wagen voller Hilfsgüter ­fuhren am 10. Oktober nach Hegyeshalom an der österreichisch-ungarischen Grenze. Drei Tage lang wollte man bleiben, die meisten blieben eine Woche.

Doch zurück zum Start, zum Geburtstagsfest von Selma Kuyas’ zweijährigem Sohn Atila. Die Gäste sollten keine Geschenke mitbringen, sondern Spenden, entschied die Mutter, ihr Sohn habe ­alles, was er brauche. Die Bilder, die sie damals von der Grenze erreichten, die Tausenden Menschen in prekärer Verfassung, liessen sie nicht mehr los. Die Gäste kamen dem Aufruf nach, ein stattlicher Berg an Spenden häufte sich an. Vor allem aber sprach sich das Engagement herum, zuerst in der alternativen Zürcher Partyszene, in der Kuyas (39) und ihr Mann gut vernetzt sind, dann in ­weiteren Kreisen. «Wir wurden bald überrannt mit Spenden und mussten uns organisieren.»

** Tsüri Hilft ** kleine Bilder für Pano Seite

** Tsüri Hilft ** kleine Bilder für Pano Seite

Mit ihrer Mitstreiterin Anja Dräger, die sich auf ihren Aufruf nach Unterstützung gemeldet hatte, rief Kuyas das Projekt «Tsüri hilft» ins Leben. Spontan und ohne sich zu kennen, organisierten ­andere Ende September einen grossen Sammeltag im Kunstraum Walcheturm. «Wir wurden total überrannt. Nach zwei Stunden konnten wir nur noch ganz ­gezielt Waren annehmen», sagt Kuyas. Viele enttäuschte Spender zogen mit ­ihren Gütern wieder ab. «Wir hatten ja wirklich keine Erfahrung mit solchen Dingen. Alles wurde sehr schnell sehr gross.» Kleider, Nahrung, Medikamente, Spielsachen, Zelte, Schlafsäcke, Gas­kocher und vieles mehr: 15 Tonnen Material kamen in der kurzen Zeit zusammen, für 4 Tonnen davon gab es beim Transport jedoch keinen Platz mehr. Bald fügte sich das eine ins andere: Das ganze Material durfte «Tsüri hilft» umsonst lagern, 65 Personen erklärten sich bereit, mit dem Konvoi mitzufahren, ein gratis zur Verfügung gestellter Sattelschlepper stand bald bereit. Er führte den Konvoi am 10. Oktober an, am Steuer Kuyas’ Mann Andalus, daneben zwei ihrer drei Kinder und Kuyas selber.

Schwierige Entscheidungen

Die Sache war gut geplant, man passierte die Grenzen mit den nötigen ­Zolldokumenten problemlos. Das alte Zollgebäude eignete sich bestens für die geplante «Tankstelle», eine Art Fassstrasse, an der sich die Flüchtlinge mit dem Nötigsten haben eindecken können. «Wir konnten gut arbeiten», sagt Kuyas. Die Zeltstadt war rasch auf­gebaut, das Verteilsystem funktionierte.

Was Kuyas und den Helfern zusetzte, waren die Umstände vor Ort. Mehr als 6000 Flüchtlinge zogen täglich vorbei – weit mehr, als sie zu versorgen in der Lage waren. «Das Schwierigste wurde das Selektionieren», sagt Kuyas. Wie entscheidet man, wer was kriegt? Wie sagt man einem, der eine mehrwöchige beschwerliche Reise hinter sich hat, dass er jetzt nichts erhält, weil andere es dringender benötigten? Das Elend überwältigte viele Helfer. Die Bilder von hungrigen Kindern, von verzweifelten Menschen, die rund um die Uhr an ihnen vorbeidrängten. Die nur rudimentär vertretenen offiziellen Hilfswerke. Dazu die langen Arbeitstage und der ­unbedingte Wille der Helfer, andauernd präsent zu sein. Es wurde geweint, es wurde gestritten, einige zogen frustriert ab, doch es wurde auch gelacht, umarmt und getröstet.

Fragt man Kuyas nach einem Fazit, bekommt man eine vielschichtige Antwort: «Wir konnten unsere ganze Ware verteilen, das war positiv.» Kuyas blieb mit ihrer Familie sieben anstatt nur drei Tage vor Ort. Trotzdem würde sie heute einiges anders machen, würde die Aktion klarer, ja fast militärischer strukturieren. Zum Beispiel mit einem Schichtplan für die Helfer. Auf jeden Fall Kompetenzbereiche definieren, damit keine persönlichen Befindlichkeiten die Hilfe beeinträchtigen.

Für Kuyas war das Projekt «lebensverändernd». Sie sei seit ihrer Rückkehr eine ernstere Person geworden, sie habe ihr Lächeln verloren. Einiges habe sie privat zu sehr vernachlässigt, das müsse sie nun wieder festigen. Trotz allem schliesst sie mit einem vage positiven ­Fazit: «Wir haben eine Welle der Solidarität ins Rollen gebracht und mit dem Projekt eine selbstlaufende Plattform für private Freiwilligenarbeit geschaffen.» Ein neuer Konvoi ist nicht geplant. Doch viele der Helfer, die damals mitfuhren, sind heute noch engagiert und fahren regelmässig zu den Camps. Das überschüssige Material hat «Tsüri hilft» anderen Organisationen zur Verfügung gestellt. Und die Geldspenden, die nach wie vor eingehen, sollen in nachhaltige Projekte investiert werden. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 29.12.2015, 18:51 Uhr) – Gehe zum Originalen Bericht beim Tagi[:en]logo
01Reisende der Hoffnung: Selma Kuyas, Fabian Henzmann, Johanna List und Vanja Crnojevic (von links).

Was hat die Flüchtlingshilfe dieser Zürcher gebracht?

Diesen Herbst sind private Helfergruppen aus Zürich nach Osteuropa gefahren, um den Flüchtlingen auf der Balkanroute zu helfen. Es war für alle eine einschneidende Erfahrung.
Redaktoren: Bernhard Odehnal Wien und David Sarasin vom 

Die erwartete Entspannung auf der Balkanroute ist bis jetzt ausgeblieben. Trotz der niedrigen Temperaturen sind noch immer Tausende Flüchtlinge auf dem Weg von Griechenland über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland. Am ersten Weihnachtstag landeten im griechischen Hafen Piräus 1700 Flüchtlinge, die zuvor in kleinen Booten die Überfahrt von der Türkei auf die Insel Lesbos gewagt hatten. Insgesamt kamen in der vergangenen Woche über 12’000 Flüchtlinge in Piräus an. Alle wollten weiter nach Westen.

An der griechisch-mazedonischen Grenze werden weiterhin nur Syrer, Iraker und Afghanen durchgelassen. Flüchtlinge aus anderen Staaten kommen nur auf gefährlicheren und auch teureren Wegen weiter: In den vergangenen Wochen registrierten die mazedonischen Behörden eine deutliche Zunahme von Schlepperaktivitäten.

An der österreichischen Grenze werden täglich rund 3000 Flüchtlinge registriert, die aus Slowenien einreisen. Am steirischen Grenzübergang Spielfeld wird nach Fertigstellung eines dreieinhalb Kilometer langen Grenzzauns ein Erstaufnahmezentrum gebaut. Bis dahin sollte der Flüchtlingsstrom aus Slowenien eigentlich über Kärnten umgeleitet werden. Etwa 30 Cars und drei Sonderzüge kommen täglich in der Kärntner Stadt Villach an. Von dort werden die Flüchtlinge weiter in Notquartiere nahe der deutschen Grenze geschickt. Weil der Transport schlecht funktioniert, werden seit Montag doch wieder an die 1000 Menschen pro Tag in Spielfeld registriert.

95’000 Menschen ersuchten 2015 laut einer Statistik des Innenministeriums in Österreich um Asyl, 300 Prozent mehr als 2014. Allerdings stellen nur 20 Prozent der über die Balkanroute kommenden Flüchtlinge Asylanträge in Österreich, 80 Prozent wollen weiter nach Deutschland. Der Freistaat Bayern ist mit dem Grenzschutz durch die Bundespolizei nicht zufrieden und würde die Überwachung der Grenze zu Österreich lieber selbst übernehmen. Das lehnt die Regierung in Berlin ab.

02

Jene Flüchtlinge, die über die Balkanroute kommen, haben die Schweiz weiterhin nicht auf ihrem Radar. Die Vorarlberger Polizei registriert in den Zügen nach Buchs oder St. Margrethen kaum Syrer oder Afghanen. Das seien nur einige wenige und «für uns kein Thema», sagt ein Polizeisprecher.

Nicht zufrieden sind die EU-Regierungen mit der Türkei, die zu wenig tue, um Flüchtlinge an der Ausreise zu hindern. Laut der europäischen Grenzschutztruppe Frontex kommen pro Tag zwischen 3500 und 4000 Menschen aus der Türkei auf griechischen Inseln an. Die türkische Regierung hingegen gibt an, sie habe allein am vergangenen Wochenende fast tausend Flüchtlinge festnehmen lassen, 700 davon bei der illegalen Einreise aus Syrien, die anderen beim Versuch, die Grenzen nach Bulgarien und Griechenland zu überqueren.

Sie war einst selbst ein FlüchtlingskindEine Zürcher Organisation baut im Süden Serbiens Helferstrukturen auf.

 

Flüchtlingshelfer: Vanja von "Border Free Association", Zürich, 22.12.2015, © Dominique Meienberg

Flüchtlingshelfer: Vanja von „Border Free Association“, Zürich, 22.12.2015, © Dominique Meienberg

Viel länger als zwei Wochen hält es Vanja Crnojevic (35) nicht aus. Dann muss sie wieder los, nach Presevo, in den Süden Serbiens. Seit drei Monaten geht das schon so. Seit sie mit dem von ihr ­gegründeten Verein Borderfree Association auf der Flüchtlingsroute Hilfe leistet. Heute verbringt sie mehr Zeit in Presevo als in der Schweiz, legt hier nur Ruhephasen ein, in denen sie zuerst krank im Bett liegt, danach ein paar Tage die Ruhe der Bündner Berge geniesst. Umso mehr, als sie in Presevo wenig schläft, rund um die Uhr einsatzbereit ist. «Es gibt so viel zu tun überall», sagt sie. «Niemand hat die Situation im Griff, alle arbeiten mehr oder weniger spontan.» Das gilt für sie und das gilt für die Helfer vor Ort, mit denen sie gute Kontakte pflegt.

Wer Crnojevic bei der Arbeit vor Ort beobachtet, merkt, wie selbstverständlich sie ihre Rolle als Helferin besetzt. Mit Soldaten verhandelt sie ebenso routiniert wie mit Politikern. Sie sucht stets die Nähe zu den Menschen. Als bei ­einem ihrer Einsätze eine Frau einen Herzinfarkt erleidet und stirbt, versorgt sie die Familie und organisiert die Beerdigung. Als ein Kind ärztliche Betreuung benötigt, fährt Crnojevic ins Spital und organisiert für die Familie Schlafplätze. «Die Momente der Menschlichkeit sind in dieser schwierigen Situation extrem wichtig», stellt sie fest.

 

** Border Free ** Flüchtlinge (c) Border Free

** Border Free ** Flüchtlinge (c) Border Free

Vanja Crnojevic weiss dies aus eigener Erfahrung. Sie war 14, als in Bosnien der Krieg tobte und sie mit ihrer Familie in die Schweiz floh, nach Churwalden. Hier lebt sie heute noch, zusammen mit ihrem zehnjährigen Sohn. Hier arbeitete sie vor der Flüchtlingskrise bei der Unia. Hierher kommt sie zurück, nicht aus dem Krieg zwar, aber aus dem Herzen der europäischen Krise.

«Der Zuspruch war riesig»

Als im Mai 2014 weite Teile Bosniens überschwemmt wurden, fuhr sie zum ersten Mal als Helferin in den Balkan. Sie spricht die Sprache und kennt die Umgangsformen. Sie habe damals in Bosnien bemerkt, dass es Helfer schwierig haben, wenn sie auf sich selber gestellt sind, sagt Crnojevic. Deshalb wollte sie bei ihrem aktuellen Einsatz einen Verein hinter sich haben, der sie unterstützt und mit dem sie mehr erreichen kann, mehr Kraft besitzt. Zusammen mit der Künstlerin Sonia Bischoff und weiteren Frauen aus Zürich gründete sie im September dieses Jahres Borderfree Association. Bald waren sie eine ansehnliche Gruppe, ein ordentlicher Verein und sammelten Spenden, um ihre Einsätze zu finanzieren. «Der Zuspruch war riesig.»

Heute ist Borderfree Association eine ernstzunehmende Organisation und eine wichtige Stütze vor Ort. Die Freiwilligen verfassen hierzulande Spendenbroschüren, stellen den Verein an Schulen vor, organisieren Solidaritätskonzerte, verkaufen T-Shirts, um die Einsätze zu ­finanzieren. Crnojevic selber ist so etwas wie das Aushängeschild des Vereins. Das Fernsehen und mehrere Zeitungen berichteten über sie (auch der TA begleitete sie im Sommer bei einem Einsatz). Mit ­einem Netzwerk von Freiwilligen ist Borderfree konstant in Presevo präsent, wo bis heute täglich mehrere Tausend Flüchtlinge durchkommen. Die Bedingungen seien schwieriger als zu Beginn ihres Einsatzes, wegen des schlechten Wetters und weil nur noch Leute aus Syrien, Afghanistan und dem Irak Papiere erhalten, sagt Crnojevic. Borderfree Association hat vor Ort eine Wohnung gemietet, um Helfer unterzubringen, die meisten packen mehrere Tage mit an. Alle unter extremen Bedingungen, weit entfernt von einem strukturierten Tages­ablauf, dies zeigen die Tagebucheinträge der Helfer auf Facebook. «Wir sind sehr zusammengewachsen. Die meisten von ihnen sind beseelt davon, etwas Sinnvolles tun zu können», so Crnojevic.

Netzwerk von 40 Helfern

Neben den spontanen Kleinsteinsätzen sei der Verein von Beginn weg auch an gezielten Aktionen interessiert gewesen. So haben sie kürzlich Geld für Wärme­decken gesammelt, ein geheiztes Zelt ­installiert oder Schritte in die Wege ­geleitet, um beim Bahnhof in Presevo einen Container zu installieren, von wo aus die Freiwilligen agieren können. ­Zudem ist die Zusammenarbeit mit der lokalen privaten Helferorganisation Youth for Refugees seit längerem im Gange. Zusammen stellen sie in Presevo ein Netzwerk von rund 40 Helfern. «Natürlich reicht das nicht, aber es ist nicht nichts», sagt Crnojevic.

Wie lange dieses Leben für sie noch weitergehen soll? Vanja Crnojevic weiss es nicht. Weihnachten hat sie mit ihrer Familie zu Hause verbracht. Doch sei es ihr zu dieser Zeit schwergefallen, nichts zu tun. Deshalb ist sie gestern wieder losgefahren. «Helfen ist nun halt mein Leben geworden.»

Ein Paar macht sich selbstständigFabian Henzmann und Johanna List fahren spontan nach Ungarn. Dann verkompliziert sich die Situation. 

 

Flüchtlingshelfer: Fabian und Johanna von "Kinder auf der Flucht", Zürich, 18.12.2015, © Dominique Meienberg

Flüchtlingshelfer: Fabian und Johanna von „Kinder auf der Flucht“, Zürich, 18.12.2015, © Dominique Meienberg

Drei Stunden genau dauerte der Prozess zwischen dem Anblick der furchtbaren Bildern von Menschenschlangen und der Entscheidung, loszufahren. Am gleichen Abend machten sich Fabian Henzmann (33) und Johanna List (31) auf den Weg, es war der 10. September. Ziel war Györ, nahe der ungarisch-österreichischen Grenze, wo täglich Flüchtlinge vorbeikommen und wo sich die Wetterlage zunehmend verschlechterte. Ihr Audi-Kombi – inklusive Dachbox – war voll mit Dingen, die das Paar entweder bereits besessen hatte oder spontan noch auftreiben konnte. Da Henzmann als freischaffender Fotograf arbeitet, kann er sich solche Pausen erlauben, und Lists 60-Prozent-Stelle als Sozialpädagogin ermöglicht ihr verlängerte Wochenenden.

Der Einsatz war erfolgreich, sie konnten die Waren verteilen. Nach der Rückkehr schalteten sie eine Facebook-Seite auf, kurz darauf wurden sie mit Sach- und Geldspenden überhäuft. «Wir mussten uns auf ein Thema fokussieren», sagt Henzmann. «Kinder auf der Flucht» war bald der Name ihres Vereins. Ein Thema, mit dem sie sich auch vor den Hasskommentatoren schützen konnten, die damals schon im Netz kursierten. «Gegen Kinder zu schimpfen, getraut sich niemand», sagt Henzmann. Ihr zweiter Einsatz fand knapp drei Wochen später statt, diesmal war die Gruppe auf acht Personen angewachsen, der Konvoi aus vier Fahrzeugen reiste nun nach Hegyeshalom, ebenfalls an der ungarisch-österreichischen Grenze. Wiederum bewährte sich die Reise, man war effizient, arbeitete mit anderen Helfergruppen an einem gemeinsamen Ziel.

 

 

Kinder auf der Flucht Bilder zur Doppelseite von David Sarasin

Kinder auf der Flucht – Bilder zur Doppelseite von David Sarasin

Sie konnten etwas bewirken, konnten ihre gesammelten Waren so verteilen, wie sie sich das vorgestellt hatten. Doch befiel sie auch ein anderes Gefühl, eines, das alle freiwilligen Helfer früher oder später heimsucht: Zum gemein­samen Etwas-Sinnvolles-auf-die-Beine-Stellen gesellt sich der Frust über die Verhältnisse vor Ort, über offizielle Hilfswerke, die nur schwach präsent sind, über Schlepperbanden, die von der Not der Flüchtlinge profitieren, über eine Politik, die bewusst Chaos stiftet, um die Bevölkerung aufzuwiegeln; und ganz generell über die politische Grosswetterlage in Europa, dessen Uneinigkeit nichts Gutes verspricht und zu dessen Spielball die Flüchtlinge mit der Zeit immer mehr geworden sind – was schliesslich auch immer mehr die Arbeit der Helfer veränderte.

Helfen auch in Berlin

Für den Verein «Kinder auf der Flucht» zeigten sich erste Schwierigkeiten auf der dritten Reise, noch einmal drei Wochen später. Diesmal führte sie nach Kroatien. Trotz der offiziellen Zulassungsbewilligung fürs Camp in Slovanski mussten die Schweizer draussen bleiben. Es blieb ihnen nur, die Ware beim Roten Kreuz abzuliefern, mit der Hoffnung, dass sie auch bei den Betroffenen ankommen würde.

Doch aufgeben wollte das Paar aufgrund der politischen Verschiebungen nicht. Auch wenn sich die Hotspots, an denen die Flüchtlinge durchkamen, seit Beginn ihres Engagements immer mehr in Richtung Süden verschoben. Die beiden hatten Respekt vor den Verhältnissen an der mazedonisch-serbischen Grenze und fanden es zudem nicht sinnvoll, mit ihren Autos die lange Strecke zurückzulegen. Ihr vierter und bisher letzter Konvoi führte sie deshalb nach Berlin in eine Notunterkunft. «Weil die da genauso Hilfe benötigen. Je länger, je mehr.»

Persönliches wird unwichtig

Henzmann und List sind sich einig darin, dass die Zeit, in der sie sich für die Flüchtlinge eingesetzt haben, in vielerlei Hinsicht prägend war. «Die Aufgabe vereinnahmt dich total. Du gehst die ganze Zeit an deine persönlichen Grenzen», sagt List. Gewöhnliche Dinge wie Essen, Kaffeetrinken oder ins Kino zu gehen, würden immer unwichtiger. «Das Helfen beflügelt einen, aber es kann einen auch gefangen nehmen», sagt List. «Man ist konstant der Gefahr ausgesetzt, sich selber zu überhitzen», sagt Henzmann. Es sei deshalb wichtig, sich dieses Umstands immer wieder bewusst werden zu lassen.

Sie gehen seit ihrer Freiwilligenarbeit noch achtsamer miteinander um als vorher. Und das Wissen, dass sie gemeinsam viel erreichen können, habe gutgetan. Doch auch Pausen von den Einsätzen seien wichtig. Zum Beispiel jetzt gerade, wo dem Paar dreiwöchige Ferien in Übersee bevorstehen. «Danach sind wir wieder einsatzbereit.»

Der grosse Zürcher Konvoi«Tsüri hilft» fuhr im Oktober mit einem riesigen Konvoi nach Ungarn.

 

Flüchtlingshelfer 1/3 Selma von Tsüri hilft. Zürich, 10.12.2015

Flüchtlingshelfer 1/3 – Selma von Tsüri hilft. – Zürich, 10.12.2015

Unter all den privaten Hilfsprojekten, die von Zürich aus in Richtung Ost­europa fuhren, war «Tsüri hilft» das grösste. 27 Wagen voller Hilfsgüter ­fuhren am 10. Oktober nach Hegyeshalom an der österreichisch-ungarischen Grenze. Drei Tage lang wollte man bleiben, die meisten blieben eine Woche.

Doch zurück zum Start, zum Geburtstagsfest von Selma Kuyas’ zweijährigem Sohn Atila. Die Gäste sollten keine Geschenke mitbringen, sondern Spenden, entschied die Mutter, ihr Sohn habe ­alles, was er brauche. Die Bilder, die sie damals von der Grenze erreichten, die Tausenden Menschen in prekärer Verfassung, liessen sie nicht mehr los. Die Gäste kamen dem Aufruf nach, ein stattlicher Berg an Spenden häufte sich an. Vor allem aber sprach sich das Engagement herum, zuerst in der alternativen Zürcher Partyszene, in der Kuyas (39) und ihr Mann gut vernetzt sind, dann in ­weiteren Kreisen. «Wir wurden bald überrannt mit Spenden und mussten uns organisieren.»

 

 

** Tsüri Hilft ** kleine Bilder für Pano Seite

** Tsüri Hilft ** kleine Bilder für Pano Seite

Mit ihrer Mitstreiterin Anja Dräger, die sich auf ihren Aufruf nach Unterstützung gemeldet hatte, rief Kuyas das Projekt «Tsüri hilft» ins Leben. Spontan und ohne sich zu kennen, organisierten ­andere Ende September einen grossen Sammeltag im Kunstraum Walcheturm. «Wir wurden total überrannt. Nach zwei Stunden konnten wir nur noch ganz ­gezielt Waren annehmen», sagt Kuyas. Viele enttäuschte Spender zogen mit ­ihren Gütern wieder ab. «Wir hatten ja wirklich keine Erfahrung mit solchen Dingen. Alles wurde sehr schnell sehr gross.» Kleider, Nahrung, Medikamente, Spielsachen, Zelte, Schlafsäcke, Gas­kocher und vieles mehr: 15 Tonnen Material kamen in der kurzen Zeit zusammen, für 4 Tonnen davon gab es beim Transport jedoch keinen Platz mehr. Bald fügte sich das eine ins andere: Das ganze Material durfte «Tsüri hilft» umsonst lagern, 65 Personen erklärten sich bereit, mit dem Konvoi mitzufahren, ein gratis zur Verfügung gestellter Sattelschlepper stand bald bereit. Er führte den Konvoi am 10. Oktober an, am Steuer Kuyas’ Mann Andalus, daneben zwei ihrer drei Kinder und Kuyas selber.

Schwierige Entscheidungen

Die Sache war gut geplant, man passierte die Grenzen mit den nötigen ­Zolldokumenten problemlos. Das alte Zollgebäude eignete sich bestens für die geplante «Tankstelle», eine Art Fassstrasse, an der sich die Flüchtlinge mit dem Nötigsten haben eindecken können. «Wir konnten gut arbeiten», sagt Kuyas. Die Zeltstadt war rasch auf­gebaut, das Verteilsystem funktionierte.

Was Kuyas und den Helfern zusetzte, waren die Umstände vor Ort. Mehr als 6000 Flüchtlinge zogen täglich vorbei – weit mehr, als sie zu versorgen in der Lage waren. «Das Schwierigste wurde das Selektionieren», sagt Kuyas. Wie entscheidet man, wer was kriegt? Wie sagt man einem, der eine mehrwöchige beschwerliche Reise hinter sich hat, dass er jetzt nichts erhält, weil andere es dringender benötigten? Das Elend überwältigte viele Helfer. Die Bilder von hungrigen Kindern, von verzweifelten Menschen, die rund um die Uhr an ihnen vorbeidrängten. Die nur rudimentär vertretenen offiziellen Hilfswerke. Dazu die langen Arbeitstage und der ­unbedingte Wille der Helfer, andauernd präsent zu sein. Es wurde geweint, es wurde gestritten, einige zogen frustriert ab, doch es wurde auch gelacht, umarmt und getröstet.

Fragt man Kuyas nach einem Fazit, bekommt man eine vielschichtige Antwort: «Wir konnten unsere ganze Ware verteilen, das war positiv.» Kuyas blieb mit ihrer Familie sieben anstatt nur drei Tage vor Ort. Trotzdem würde sie heute einiges anders machen, würde die Aktion klarer, ja fast militärischer strukturieren. Zum Beispiel mit einem Schichtplan für die Helfer. Auf jeden Fall Kompetenzbereiche definieren, damit keine persönlichen Befindlichkeiten die Hilfe beeinträchtigen.

Für Kuyas war das Projekt «lebensverändernd». Sie sei seit ihrer Rückkehr eine ernstere Person geworden, sie habe ihr Lächeln verloren. Einiges habe sie privat zu sehr vernachlässigt, das müsse sie nun wieder festigen. Trotz allem schliesst sie mit einem vage positiven ­Fazit: «Wir haben eine Welle der Solidarität ins Rollen gebracht und mit dem Projekt eine selbstlaufende Plattform für private Freiwilligenarbeit geschaffen.» Ein neuer Konvoi ist nicht geplant. Doch viele der Helfer, die damals mitfuhren, sind heute noch engagiert und fahren regelmässig zu den Camps. Das überschüssige Material hat «Tsüri hilft» anderen Organisationen zur Verfügung gestellt. Und die Geldspenden, die nach wie vor eingehen, sollen in nachhaltige Projekte investiert werden. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 29.12.2015, 18:51 Uhr) – Go to the original press release[:]