Sie nennen es «das Spiel»
Ich denke zurück ans grosse umzäunte Sportfeld, an die Kids, die auf der matschigen Wiese zwischen herumliegenden PET-Flaschen Penaltys schiessen, Drachen steigen lassen und mit dem Hund um die Wette rennen. Die Sonne scheint blass, Dunst liegt über dem Städtchen und die Luft riecht nach Teer. Es hat viel Überzeugungsarbeit gebraucht, genau gesagt, eine ganze Stunde, um die Jungs und Mädchen nach draussen zu bringen. Jetzt wo sie draussen sind, sind die meisten von ihnen gänzlich ins Fussballspiel eingewickelt. Eines der Mädchen schlägt sich tapfer durch, um auch ab und zu an den Ball zu gelangen. Die Jungs finden das nicht cool und verhalten sich eben wie es junge Teenagerboys gegenüber gleichaltrigen Mädchen tun – uninteressiert und abweisend. Sie aber lässt sich nicht einschüchtern, kichert und kreischt, wenn einer ihr den Ball vor den Füssen wegkickt und bleibt im Spiel. Ich rufe ihr ermutigend zu, sie soll dranbleiben und befehle den Jungs, sie mitspielen zu lassen.
Das zweite Mädchen, das zur Gruppe gehört, sitzt auf der überdachten Bank am Rande des Platzes, ihre Füsse baumeln über dem Boden, den Schal hat sie über ihre Augen gebunden, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. Ich setze mich neben sie, frage, ob sie müde sei. Sie spiele nicht so gerne Fussball, erwidert sie. Ich frage, ob sie vielleicht lieber Federball spielen würde. Sie hat vergessen, was Federball ist, bejaht aber meine Frage, als ich ihr erkläre, wie das Spiel geht.
Am nächsten Tag braucht es wieder dieselbe Überzeugungskraft wie am Tag zuvor, die jungen Leute nach draussen zu bringen, um die seltenen Sonnenstrahlen des Winters in Loznica auszuzehren. Heute habe ich auch vier Schläger und einen Federball dabei, worauf wir ein Paar runden spielen – hauptsächlich gegen den Wind, der heute nicht auf unserer Seite steht.
Während des täglich stattfindenden Workshops haben wir am Abend zuvor gemeinsam aus Plastiksäcken, Schnur und Stäben Drachen gebastelt, die nun ausprobiert werden. Man merkt sofort, dass einige von ihnen absolute Profis im Drachenfliegen sind – innert wenigen Minuten sind die Drachen mehrere Dutzend Meter hoch in der Luft. In Afghanistan, dem Herkunftsland vieler, ist Drachenfliegen eine beliebte Freizeitbeschäftigung, die auch Turniere miteinbezieht. Einer der Jungs erzählt mir von seinen Drachenturnieren, drückt mir die Spule in die Hand, an der der schwarze Drachen hängt, hoch in der Luft schwebend. «Geh, wo immer du hingehen willst», sagt der Junge, zum Drachen blickend, mit einem scheuen, sehnsüchtigen Lächeln. Nach zwei Stunden packen wir alles zusammen und gehen zurück ins Haus, wo sich bald alle entweder hinter ihrem Handy verkriechen oder vor den Fernseher in der Stube versammeln und Musikvideos schauen.
Ich überlege mir, was wir heute während des 5-Uhr-Workshops machen könnten. Das Ziel des Workshops ist es, gemeinsam, ohne Mobiltelefon, Zeit zu verbringen. Meistens ist auch dieser Moment des Tages eine Gedulds- und Motivationsübung. Sobald jedoch alle (oder fast alle) zum Mitmachen überzeugt worden sind, nimmt das Spiel, die Bastelei oder das Malen seinen Schwung. Es ist laut, lebhaft und lustig. Dies ist die Zeit des Tages, wo ich die Jungs und die Mädchen mit all ihren Charakterzügen kennenlerne. Die einen sind ganz in ihrer eigenen, kreativen Arbeit vertieft, andere arbeiten lieber zu zweit oder zu dritt, einer geht von Gruppe zu Gruppe, um Hand anzulegen, einer schaut meistens einfach dem Geschehen zu. Alles ist erlaubt, solange niemand gestört wird und am Moment teilgenommen wird, auf individuelle Art. Wie ein Ballon, dem auf einmal die Luft entweicht, löst sich die Gruppe auf, sobald ein paar mit ihrem Werk fertig sind, keine Lust mehr haben oder wegen einer nicht eingehaltenen Spielregel anfangen zu streiten und davonlaufen. Dann verlassen alle den Raum, die zwei, drei üblichen bleiben zurück und machen ihre Sachen noch fertig, oder helfen mir aufzuräumen. Man könnte denken, dass der Workshop von niemandem wertgeschätzt wird, es sogar als eine mühsame Aufgabe, den Haushalt-Ämtli ähnlich, wahrgenommen wird. Wenn sie aber mal dran sind, kann ich in den meisten Gesichtern einen Ausdruck von Enthusiasmus, der inneren Ruhe und Präsenz oder der Neugierde, etwas Neues auszuprobieren, entdecken.
Meine Unsicherheit bezüglich dem Nutzen und dem Sinn meiner Anwesenheit geriet spätestens an dem Tag in den Hintergrund, als ich eines Morgens im Haus zählte, ob alle da sind und ich immer wieder nur auf 10 anstatt 11 Kinder kam. «Er ist zurück ins Spiel», sagte man mir. Eine halbe Stunde vor meiner Ankunft ist er fortgegangen. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig nach Subotica zu gelangen, wo ein Schmuggler auf ihn wartete, um ihn nach Ungarn zu bringen. Von dort aus solle ihn sein Bruder holen kommen, um nach Deutschland zu fahren. Er wartet heute noch an der ungarischen Grenze auf den Übergang, hin zu seiner Familie. Sein plötzliches, für mich unerwartetes Verschwinden war im ersten Moment erschütternd. Das ist die Realität, in der diese Kinder leben. Da ist es egal, ob man ein Windrädli mehr oder weniger bastelt oder beim Fussball mitspielt oder nicht. Es geht darum, so schnell wie möglich zu Verwandten zu kommen und der Hoffnung entsprechend in Deutschland, Frankreich, Italien oder Belgien ein neues Leben aufzubauen.
Der «Spielzug» hat Aufbruchstimmung ins Haus gebracht. Plötzlich sprechen alle davon, «to go on game», ihre Reise weiterzuführen, obwohl es mitten im Winter ist, viel zu kalt, um sich tage- und nächtelang draussen aufzuhalten. Zwei Tage später packen drei andere ihre Sachen. Ich versuche sie noch davon zu überzeugen bis zu ihrem Aufbruch auf den Frühling zu warten und währenddessen in Loznica zur Schule zu gehen, die Mitte Februar beginnen soll. Aber ihr Onkel in Afghanistan hat entschieden, dass jetzt Zeit zu gehen ist. Ich merke, dass sie selbst nicht richtig wissen, wo ihre Reise hingeht. Das wissen nur die Schmuggler. Oder wollen sie es mir vielleicht nicht sagen? Schwer herauszufinden, da auch die Sprachbarriere zwischen Englisch und Pashtun zu gross ist. Trotz den fehlenden Worten, kann ich das Gefühlschaos in ihnen erkennen, das Gemisch aus Freude, ihrem Ziel vielleicht ein Stück näher rücken zu können, Aufregung gegenüber dem, was auf sie zukommen wird, gleichzeitig Trauer, die Leute im Haus hinter sich zu lassen und Angst und Unsicherheit davor, wie sie die nächsten Tage in der Kälte und der Gefahr, ertappt zu werden, wohl überstehen werden. Es wird mir klar, dass diese drei Kinder innert den nächsten Minuten weg sein werden. Aus Verzweiflung und einem Ohnmachtsgefühl heraus, ziehe ich meinem motiviertesten Deutschschüler meinen Wollschal über, der ihn während der Reise warmhalten soll. Er bedankt sich und umarmt mich: «Thank you, my sweet teacher». Noch ein paar Fotos zur Erinnerung und schon winken wir den Jungs zu, die das Gartentor hinter sich schliessen. Alle ziehen sich zurück in ihre Zimmer, ins Büro, ins Wohnzimmer. Ein Moment lang ist es sehr still im Haus.
Um mich und auch die Kinder davon abzulenken, was gerade geschehen ist, schlage ich vor etwas Deutsch zu üben, worauf zwei Jungs ihr Lernmaterial hervornehmen und wir anfangen, Sätze und Wörter zu übersetzen und die Aussprache zu üben. Mit sieben anstatt elf Kindern im Haus ist die Stimmung anders, ruhiger, aber auch eine gewisse Leere verbreitet sich.
Am Abend erhalten wir ein Video von den Jungs, die in Belgrad unter einer Brücke sitzen. Sie grinsen in die wacklige Kamera, allesamt eingemummt in ihren Jacken, um ein kleines Feuer sitzend. Da werden sie die Nacht verbringen und ich frage mich wie es dazu kommt, dass ich dabei nur zuschaue. Am nächsten Abend kommt einer der drei Jungs wieder zurück. Völlig erschöpft und mit Kopfschmerzen, isst er kurz etwas und geht danach für anderthalb Tage schlafen.
Über sie einzelnen Schicksale der Kinder und wie sie im House of Rescue gelandet sind, wird nicht viel gesprochen. Zumindest nicht auf Englisch. Hin und wieder erzählt mir jedoch die eine oder der andere ein bisschen etwas vom eigenen Leben oder von der Flucht. Die meisten Jungs lachen dabei, erzählen ihre brutalen, lebensbedrohlichen Erlebnisse als wäre es eine kribblige Abenteuerreise gewesen, bei der sie mit Glück, Risiko, Flinkheit, Tricks und Geschick immer weitergekommen sind. Ein Spiel eben. Manchmal ist man allein, manchmal in einem Team. Es gibt ein Ziel, Hürden, Regeln, Strategien, Verlierer und Gewinner. Was es allerdings nicht gibt, sind Extraleben.
Es fällt mir auf, dass die Einbettung der Erlebnisse sowie Gefühlslagen wie Heimweh und Trauer in Humor und Witz bei Männern und Jungen häufig vorkommt. Es gibt auch Momente, bei denen Gedanken direkter ausgesprochen werden. Einer der Jungen sagte mir bevor er ging, sein Herz wolle eigentlich hier bleiben, weil er merkt, dass es ihm hier gut gehen kann. Da er aber mit seinem zwei Jahre älteren Onkel unterwegs ist, kann er nicht entscheiden, wo er sein will, sodass er ihm folgen muss, entweder nach Belgien oder nach Italien, wo seine Verwandten leben. Aber er will eigentlich nicht mehr raus in die Kälte, er will auch nicht nächtelang durch den Wald und in den Bergen laufen, ohne genügend Wasser und Proviant dabeizuhaben. Er will auch nicht mehr von der Polizei geschlagen werden und sich in Kofferräumen quetschen lassen. Wenn aber die Familie in Afghanistan es so bestimmt, müssen er und sein Onkel weiterziehen. So sitzen die beiden jetzt in Belgrad unter der Brücke und warten auf den Schmuggler, der sie nach Rumänien führen soll.
Nicht alle können so leicht über ihre Situation sprechen. Bei den Mädchen beispielsweise, fällt es mir schwer, die von ihnen benötigten Informationen zu erhalten, da ich merke, dass es unangenehm ist für sie, die kürzlich erlebten Gräuel in Worte zu fassen. Ich will sie nicht auspressen und will nicht grob sein mit ihnen. Sie werden jedoch spätestens beim Interview mit dem UNHCR dazu gezwungen sein, jedes Detail ihrer Geschichte zu erläutern, um so schnell wie möglich bei ihrer Mutter in Lyon leben zu können. Als ich mit der Mutter telefoniere, um ihr den Vorgang zur Familienvereinigung auf Französisch zu erklären, höre ich sie durchs Telefon weinen und schluchzen. Die Mädchen können sie auch hören, sie sitzen jetzt stumm auf dem Sofa, darauf wartend, dass dieser Moment endlich vorbeigeht.
Trotz des Einblicks in die harten Schicksale dieser Menschen, die ich erhalten habe, hoffe ich, dass ich zumindest kurzfristig, für ein paar Momente, positive Gefühle, Ablenkung und Selbstvertrauen in ihnen erwecken konnte. Ich werde mich daran erinnern, wie ich mit einem Teenager aus Syrien zusammen, eine Papierblume als Mikrophon in der Hand haltend, beim Karaoke «Tujhe Dekha» auf Hindi singe. Ich werde mich erinnern, an die Abende, an denen wir den Esstisch und das Sofa zur Seite geschoben haben und alle zu afghanischer und arabischer Musik getanzt und mitgeklatscht haben. Auch die Stunden, an denen ich den Unterschied in der Aussprache zwischen einem englischen und einem deutschen A zu erklären versucht habe, werde ich nicht vergessen. Schliesslich werde ich mich erinnern, an die Tapferkeit, die Einzigartigkeit und das Lächeln jedes einzelnen dieser jungen Menschen.
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