Geschichte einer Flucht – Teil II
F. musste als Vierzehnjähriger vor den Taliban aus Afghanistan fliehen. Er liess seine Eltern und Geschwister zurück und schlug sich mit Hilfe von Schleppern durch verschiedene Länder durch. Drei Jahre dauerte seine Flucht, bis er bei uns im «House of Rescue» in Loznica ankam.
Im ersten Teil dieser dreiteiligen Serie erzählte uns M. F. von seiner Flucht durch den Iran, Irak und die Türkei. Im zweiten Teil berichtet er über seine Erlebnisse in Griechenland.
Griechenland
«Es gibt einen Fluss, der die Türkei von Griechenland trennt. Kein besonders breiter Fluss, aber trotzdem brauchten wir fünfzehn Versuche mit dem Boot, um ihn zu überqueren und das griechische Ufer zu erreichen. Es war Winter und der Fluss war zugefroren. Wir mussten das Eis brechen, damit wir überhaupt rudern konnten. Wir versuchten es vierzehn Mal ohne Erfolg und dann, als wir fast aufgegeben hätten, klappte es endlich. Zum Glück war es an diesem Tag etwas wärmer als die Tage zuvor, also war es einfacher, das Eis zu brechen. Während wir mit dem Eis kämpften, bohrte ein scharfes Stück Eis ein Loch in unser Boot. Wir gerieten in Panik und ruderten schneller, was fast zum Umkippen des Bootes geführt hätte. Wenn das passiert wäre, hätten wir in das eisige Wasser fallen und ertrinken können. Wer weiss, wie viele von uns es dann geschafft hätten. Vermutlich nicht viele.
Doch wir erreichten Griechenland und verbrachten einen Monat in einem Lager; das ist vom griechischen Gesetzt so vorgeschrieben, wenn man als Flüchtling bleiben will. In diesem Lager traf ich meine derzeitigen Freunde und Mitbewohner. Wir vier versuchten mit einem Schmuggler zu sprechen, der versprochen hatte, uns nach Serbien zu bringen. Wir hatten ihm vertraut und ihn bereits bezahlt. Aber er wollte mehr Geld. Er behauptete, mit uns einen höheren Geldbetrag vereinbart zu haben. Natürlich log er und es gab Streit. Er weigerte sich, uns nach Serbien zu bringen, und wollte uns auch unser Geld nicht zurückgeben. Vor allem aber drohte er, sich an uns zu rächen, wegen unserer angeblichen Schulden.
Wir hatten auch einen Konflikt mit einer Gruppe anderer Lagerbewohner, die im ganzen Lager Mobiltelefone und Geld gestohlen hatten. Während des Streits zog einer plötzlich eine Machete aus seiner Jacke und schnitt einem meiner Freunde in den Hals. Ein anderer zog ein Messer, schaffte es aber zum Glück nur, die Jacke meiner Freundin zu erwischen. Die Polizei kam und brachte uns alle zur Polizeistation zum Verhör. Da unsere Gegner Waffen hatten, das heisst, ein Messer und eine Machete, wurden sie in Haft behalten. Wir wurden freigelassen und unser stark blutender Freund ins Krankenhaus gebracht.
Da wir Griechenland sowieso verlassen mussten, hatten wir folgenden Plan: Wir wollten versuchen, mit dem Zug nach Mazedonien und dann nach Serbien zu gelangen, auf eigene Faust und ohne die Hilfe des Schmugglers. Der Plan war, uns zwischen die Waggons zu klammern, um die Grenzkontrolle im Zug zu umgehen. Was wir dann auch taten. Auf dem Weg zur mazedonischen Grenze kollidierte der Zug aber mit einer Ziege. Der Zug hielt an, wir gerieten in Panik und sprangen in einen der Waggons, aus Angst, von der Polizei erwischt zu werden.
Im Waggon war es dunkel, aber wir konnten spüren, dass wir in etwas Weiches gesprungen waren, das sich unter unseren Fingerspitzen wie Sand anfühlte. Doch es war zu spät – die griechische Polizei hatte uns bereits gesehen. Wir wurden panisch und dachten, alles sei vorbei. Doch die Polizisten drehten einfach die Köpfe weg und taten nichts dergleichen. Wir konnten unsere Reise unbehelligt fortsetzen.
Am Morgen danach, als es hell geworden war, konnten wir unsere Gesichter, Hände und Kleidung sehen: Alles war schwarz – da erst verstanden wir, dass kein Sand im Waggon war, sondern Kohlenstaub. Wir begannen zu lachen wie die Verrückten, zum ersten Mal seit vielen Tagen.
Während der Zugfahrt riefen mich meine Eltern auf meinem Handy an. Als ich ihnen sagte, dass ich in Serbien bleiben wollte, klangen sie enttäuscht. Sie verlangten, dass ich weiter in ein westliches Land reiste. Ich war so gereizt, dass ich mein Handy wegwarf. Seitdem habe ich nur noch selten mit ihnen gesprochen.»
Fortsetzung folgt im dritten Teil der dreiteiligen Serie «Geschichte einer Flucht».
F.’s Geschichte ist ein Einzelschicksal und doch ist er kein Einzelfall: Es gibt viele ähnliche Geschichten von Jungen wie M. F. Im «House of Rescue» hoffen wir, dass Kinder wie er hier endlich eine Art Zuhause gefunden haben, wo sie sich sicher fühlen und sich von ihren Traumata erholen können.
Kinder wie M. F. brauchen dringend unsere Hilfe. Unterstützen bitte deshalb das House of Rescue. Herzlichen Dank.
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