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Wir werden statt des Tagebuchs von Vanja Crnojević, Geschäftsführerin und Gründerin von Borderfree Association, die bewegenden Geschichten von drei Jungen erzählen. Etwas länger als gewohnt, dafür umso wichtiger.

Farhad, 14, Afghanistan: «Ich bin erst 14 Jahre alt, aber ich bin müde vom Leben, wirklich sehr müde.»

Farhad* ist vor drei Jahren aus Afghanistan geflohen. Er ist 14 Jahre alt und will Automechaniker werden. Auf seinem Körper sind Narben von Feuer und Bomben sichtbar. Ein fröhlicher und geselliger junge, dessen Qual nach dem Verlassen seiner Heimat vor ein paar Jahren begonnen hat. Farhad ist der älteste seiner vier Geschwister, die in Afghanistan geblieben sind. Sein Vater wurde von den Taliban getötet, als er noch klein war. Seine Kindheit war geprägt von Armut und den Bemühungen seiner Mutter, die Familie zu ernähren. Er erinnert sich heute noch an die dauernden Angriffe der Taliban im Dorf. Sie warfen Bomben, es gab Feuer und er musste sich immer verstecken.

Der Entscheid zur Flucht

Farhad absolvierte nur die erste Klasse. Danach musste er die Schule verlassen, weil er der Mutter beim landwirtschaftlichen Arbeiten half, was die einzige Einnahmequelle war. Farhad erzählt heute mit Wehmut von seinem Heimatdorf. Ihm kommen jedes Mal die Tränen, wenn er seine Mutter erwähnt, die er seit seiner Abreise nicht mehr gesehen hat. «Ich wünschte, ich könnte wieder zur Schule gehen. Ich möchte meine jüngste Schwester umarmen», erzählt er. Jede Nacht bevor er schlafen geht, denkt er an sie. Er hat Angst, dass sie in Gefahr sind und Hunger leiden und es niemanden gibt, der ihnen helfen oder Schutz bieten könnte. In ihrem Dorf gibt es weder Strom noch Internet, deshalb kommunizieren sie sehr selten.

Afghanistan musste er verlassen, weil die Taliban wollten, dass er ein Mitglied Ihrer Einheit wird. Das bedeutet, dass sie ihn mobilisieren wollten. Da Farhad sich weigerte, drohten sie ihm mit dem Tod. Eines Tages stürmten ein paar bewaffnete Taliban in sein Haus und fragten nach ihm. Er wurde dabei verletzt, da die Taliban auf ihn und seine Familie schossen. Er musste aufgrund einer Schusswunde ins Krankenhaus. Die Familie und er schafften es zu entkommen und wohnten für eine Weile bei einem Onkel, weil sie sich nicht mehr nach Hause trauten. Als er merkte, in welcher Gefahr er sich befindet und dass die Taliban im ganzen Dorf nach ihm Ausschau hielten, entschied er sich zur Flucht. Er ging nach Europa mit ein paar Freunden. Nur mit einer Tasche und ein paar kleinen Ersparnissen, die ihm seine Mutter mitgab.

Die traumatischen Erlebnisse auf der Flucht und in den Camps

Als schlimmste Erfahrung auf der Flucht beschreibt er die Nächte vor der iranischen Grenze, wo sie stundenlang froren. Sie hatten enorme Angst vor der Grenzpolizei, die nicht zögerte zu schiessen. Mehrere seiner Gefährten starben während sie die Grenze passierten. Doch er schaffte es immer weiter. Dann erzählt er von seinen traumatischen Erlebnissen im Camp Harmanli in Bulgarien. Dort wurde er geschlagen und eingesperrt. Darüber kann er nicht reden. Für ihn wird nichts mehr dasselbe sein. Nach den Ereignissen in Bulgarien weiss er nicht, was ihn noch glücklich machen kann. Jede Nacht, wenn alles still um ihn herum ist, kommen die Bilder dieser erschreckenden Ereignisse wieder hoch. Er sagt, auch wenn er jemals erfolgreich sein sollte, könne er nie wieder glücklich sein, wegen allem was ihm passiert ist. Das würde ihn nie mehr loslassen.

Unendlich langes Trampen zu Fuss, der Hunger, die eisige Kälte, Gewalt und Unsicherheit begleiteten Farhad und andere Jugendliche auf der Reise nach Serbien. Nach der Einreise in Serbien war es einfacher, weil die Menschen ihn besser behandelten. Er musste nicht mehr um sein Leben fürchten. Er hatte keine Angst mehr vor der Polizei, weil ihn hier niemand schlägt. Aber es kamen neue Gefahren auf ihn zu. In den ersten Monaten seines Aufenthalts in Serbien hatte er Probleme mit der Unterkunft. Er schlief in verlassenen Baracken im Zentrum der Stadt mit ein paar hundert Mitreisenden. Es war ein extrem harter Winter. Sie froren grausam und verbrannten ihre eigenen Abfälle, um sich zumindest ein wenig aufzuwärmen. Sie schliefen auf dem Boden, umgeben vom Rauch und schrecklichem Schmutz. Vom Rauch konnte man nicht schlafen und es plagte die Menschen ein erstickender Husten. In der Baracke erhielten sie Pakete mit Lebensmitteln, für die er sehr dankbar war. Täglich erhielten sie Mahlzeiten, Wasser, Pakete, die von verschiedenen Organisationen verteilt wurden. Sie wurden von ihnen über die Umstände ihres Aufenthaltes ausgefragt. Mit Scham und Ekel bezeugt Farhad, dass in der Nähe der Baracke in Belgrad sich ihm immer wieder ein paar ältere Männer näherten und ihm zwei bis fünf Euro für Sex anboten. Aber er hat immer abgelehnt. Er offenbart uns, dass einige Jugendliche sich darauf einliessen und mit dem Kunden in Richtung öffentliche Toiletten auf dem Belgrader Busbahnhof gingen. Dort bekamen sie für ihren Körper weniger als fünfhundert Dinar von den älteren Männern. Für das Geld assen die Jugendlichen etwas oder kauften sich Guthaben für ihr Handy, um ihre Familien in Afghanistan zu kontaktieren.

Farhad erzählt uns, dass er grosse Angst vor den älteren Männern hatte. Doch nicht nur vor ihnen fürchtete er sich, sondern auch vor den Kriminellen, die man vor der Baracke sah. Aber auch vor der Gewalt, die in in der Baracke herrschte.

Neben den schlechten hygienischen und materiellen Bedingungen in den Baracken gab es oft körperlichen Konfrontationen. Er ging dem stets aus dem Weg, denn er fürchtet sich zu sehr vor solchen Situationen. Er betete und verlor nie die Hoffnung.

Vorbei aber nicht vergessen

Farhad bekam die Hilfe, die er brauchte. Auch wenn nun alles vorbei ist, kann er nicht über das alles Geschehene reden. Denn dann fühlt er sich wirklich schlecht: Unerträgliche Schmerzen, Trauer und Scham kommen auf. Einige Male nahm er ein Messer und schnitt sich in die Hände, weil dann der körperliche Schmerz sein seelisches Leiden ersetzte und es für einen Moment lang einfacher war. Für einen Moment kann seine Seele Luft holen. Über einige Ereignisse zu sprechen, die ihm wiederfahren sind, wird er wohl nie in der Lage sein. Er hofft, dass er es irgendwie irgendwann vergessen wird. Er sagt: «Ich bin erst 14 Jahre alt, aber ich bin müde vom Leben, wirklich sehr müde. Zu viele hässliche Dinge sind mir zugestossen und alles was ich will, ist Frieden und meine Mutter nochmals umarmen.»

*Um die Identität des Kindes zu schützen, wurde der Name geändert.

Hier gehts zu allen Porträts der Flüchtlingskinder: Porträts Flüchtlingskinder

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