fbpx

Überall siehst du sie. Alle paar hundert Meter. Du musst sie nicht suchen. Sie sind unübersehbar – die weissen Blachen mit der blauen Aufschrift „UNHCR“. Es sind die Dächer von Zeltsiedlungen. Das Zuhause von Menschen. Von vergessenen Menschen.
Obwohl die Siedlungen gross und unübersehbar sind, scheint es mir, als seien die Menschen, die die Zelte ihr Zuhause nennen, vergessen worden. Vergessen von der Welt. Von uns. Von dir und mir. Menschen, vergessen von Menschen.

Während dem Schreiben dieser Zeilen zieht es mir das Herz zusammen und ich verdränge eine Träne. Mir war zwar bewusst, dass es diese Menschen gibt. Trotzdem habe auch ich sie vergessen. Ich habe mich ablenken lassen, von unserem Tagesgeschehen. Ich habe mich blenden lassen und habe gedacht, unsere Probleme seien wichtig. Und dabei habe ich vergessen, wie schnell die Zeit vergeht. Vergessen, dass diese Menschen seit zehn Jahren in ihren provisorischen Zelten leben.

Dann bin ich auf Borderfree Association aufmerksam geworden. Der Verein, der diese Menschen bei ihrem Namen nennt und ihnen ein Gesicht gibt.

Vanja von Borderfree Association geht dorthin, wo wir alle gerne wegschauen, sie begegnet den Menschen auf Augenhöhe, ist sich für nichts zu schade und gibt ihnen ein Stück dessen zurück, was wir ihnen genommen haben.

Ja, wir sind verantwortlich! Wir haben ihnen nicht persönlich etwas weggenommen, richtig. Aber wir sind unsere Politik. Wir alle zusammen liefern die Waffen. Wir lassen es geschehen, auch wenn wir es nicht persönlich tun. Und es liegt in all unseren Händen, diesen Menschen, die Menschen sind wie du und ich, wenigstens etwas zurückzugeben. Persönlich vor Ort, mit einer Spende, mit Gebeten. Ich bewundere Vanja – weil sie sich dieser Verantwortung stellt, nicht wegschaut und handelt. Und dabei stark bleibt und nicht aufgibt!

Borderfree Association hat es mir ermöglicht, diese Menschen zu besuchen. Ich bin gegangen, um zu geben – und habe so viel zurückbekommen. Diese Menschen haben fast alles verloren – aber nicht ihre Gastfreundschaft, nicht ihre Offenheit, und nicht ihre Herzlichkeit.

Ich sorge mich um die Zukunft dieser Menschen. Es leben dort viele Kinder, sehr viele. Diese Kinder gehen in keine offizielle Schule, können oft nicht einmal Arabisch schreiben, geschweige denn Englisch. Auch die Mütter können oftmals nicht schreiben. Die Väter sind ständig damit beschäftigt, die Familie zu ernähren. Die meisten Kinder sind in den Zeltsiedlungen geboren. Es wächst eine ganze Generation heran, die die Schule nicht besucht. Was wird aus diesen Kindern?

In den Siedlungen gibt es meist kein fliessendes Wasser und keinen Strom. Auch keine Dusche. Geschweige denn eine medizinische Versorgung. Und das nicht vorübergehend, sondern seit zehn Jahren. Für mich unvorstellbar, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe.

Noch nie habe ich so viele wissbegierige Kinder und Frauen getroffen. Ich habe versucht, ihnen ein bisschen Englisch beizubringen, und sie nebenbei mit Liebe und Selbstvertrauen zu stärken. Der Wille zu lernen, ihr Enthusiasmus, ihre Konzentration – eine wahre Freude. Sogar die Grossmütter sind in die Klasse gekommen und haben mir fleissig nachgesprochen „Hello, my name is …“. Bei einigen hatte ich das Gefühl, dass sie zum ersten Mal mit einem Stift in einem Heft geschrieben haben. Voller Stolz haben sie mir ihre Werke zur Kontrolle gegeben. Es blüht mir das Herz auf, wenn ich an die vielen Gesichter und tiefen Blicke zurückdenke. Die Kommunikation lief oftmals über die Blicke – da ich kein Arabisch spreche, musste die Kommunikation alternativ ablaufen – allerdings nicht weniger intensiv. Auch Augen können sprechen!

Die Freude über den Willen dieser Menschen, zu lernen, stimmt mich gleichzeitig auch traurig. Was fehlt einem Menschen alles, wenn er sich so sehr über den Besuch einer „Fremden aus der Schweiz“ freut, mit der man nicht einmal richtig sprechen kann? Was fehlt alles, wenn Kinder sich so auf ein bisschen Schule freuen, wie sich die Kinder hier bei uns höchstens zu Weihnachten über die Geschenke freuen? Dort gibt es keine Geschenke. Fatima hat mir gesagt, dass sie die Geburtstage ihrer fünf Töchter nicht feiert – weil es ihr nicht möglich ist, fünf Geschenke pro Jahr zu organisieren.

Beim ersten Besuch in der Siedlung habe ich die Menschen als zufrieden wahrgenommen. Sie versuchen, das Leid zu verstecken. Mit ihrer letzten Würde empfangen sie Gäste mit offenen Armen und servieren Tee, Kaffee und Essen und lächeln dabei. Erst nach einer Weile findet man Stück für Stück heraus, was sich hinter den Fassaden verbirgt.

Da ist Mama Mariam, die Grossmutter, deren Ehemann noch in Syrien ist. Er hat dort eine zweite Frau geheiratet. Mama Mariam ist alleine im Camp und weint viel, wenn sie alleine ist.

Da ist Shaha, die ein Herzproblem hat und ihr Kind nicht auf normalem Weg gebären konnte. Es wäre zu viel für ihr Herz gewesen. Vanja hat ihr geholfen.

Da ist die Frau, die ihr Kind im Spital geboren hat, es aber nicht nach Hause nehmen durfte, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnte.

Da ist die Grossmutter, die am Oberarm drei Löcher hat, so tief bis auf die Knochen. Sie weiss nicht, ob die Löcher von Schüssen oder von Splitterteilen sind. Sie ist damals einfach gerannt, weg! Die Löcher hat sie erst später gesehen. Es haben sich die Wunden infiziert, weil sie nicht steril versorgt worden sind.

Da ist der Junge mit dem deformierten Fuss, und auch der Junge mit dem verbrannten Fuss, dem die Zehen in alle Richtungen stehen. Weil die Verbrennung nicht behandelt wurde, als sie passiert ist.

Da ist Yiad, der sieben Jahre alt ist, und davon spricht, nicht mehr leben zu wollen.

Und der Mann, mit einem eitrigen Abszess am Fuss, so gross wie eine Zitrone.

Auch eine junge Frau lebt dort, der Ehemann ebenfalls noch in Syrien, auch er hat dort nochmals geheiratet.

Diese Geschichten sind alle nur aus den wenigen Tagen, in denen ich dort war. Unvorstellbar, auf was für Geschichten man treffen würde, wenn man ein Jahr dort wäre!

Ich bin unglaublich dankbar für die Erfahrung, die ich dank Borderfree Association machen durfte. Von Herzen gerne werde ich Vanja und ihr Team auch in Zukunft unterstützen, so gut ich kann.

Borderfree Team – bitte hört nie auf, mit dem was ihr tut! Ihr seid unglaublich wichtig in unserer Zeit. Danke für euer Tun!

Nicole, Borderfree Volunteer